Viele derjenigen, wenn nicht die Mehrheit, die regelmäßig mit dem Tarot umgehen, interessiert die Beziehung zwischen dem hebräischen Alphabet und dem Tarot nicht. Viele wissen auch darüber nichts, ist es doch auch nicht wirklich notwendig für eine fruchtbare Arbeit mit dem Tarot. Dennoch, für die okkulten Lehrer und Schüler der über 150-jährigen Tradition des esoterischen Tarot ist die Wechselbeziehung zwischen dem hebräischen Alphabet (Abb. 1) und den Großen Arcana des Tarot von elementarer Wichtigkeit.
„Hatte das hebräische Alphabet Einfluss auf die Gestaltung des frühen Tarot?“ [1] Mit dieser Frage beginnt Mark Filipas seinen Essay zu seiner „Lexikon-Theorie“. Nun ist es Tatsache dass es so viele hebräische Buchstaben gibt wie die Anzahl der Trümpfe im Tarot: 22. Skeptiker sind sich sicher, man habe die besagte Verbindung zwischen Alphabet und Tarot allein vor diesem Hintergrund willkürlich hergestellt. Es sei nichts dahinter als diese rein zufällige zahlenmäßige Übereinstimmung. Dieses Lager (dazu gehören neben den außenstehenden Esoterik-Kritikern auch viele innerhalb der großen Tarot-Gemeinde selbst) hält die ganze Idee für einen groß aufgeblasenen Schwindel oder einfach nur eine Sophisterei. Mark Filipas führt fort: „Diese Frage wird nun schon seit mehr als einem Jahrhundert heiß diskutiert. Am einen Ende des Spektrums stehen diejenigen, die argumentieren, dass die Buchstaben von Anfang an grundsätzlich mit den Trümpfen verbunden waren. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die behaupten, dass es keine Beweise gibt, die auf eine Verbindung zwischen dem frühen Tarot und dem hebräischen Alphabet schließen lassen.“
Das Große Arcanum #1 entspricht nach Filipas dem ersten Buchstaben des hebräischen Alphabets, Aleph (unserem A). Das zweite, die Päpstin (die Hohepriesterin), ist mit dem zweiten Buchstaben, Beth, verbunden. Das geht bis zur Welt als Shin und dem Narren als Tav (Abb. 2a und 2b).
Mark Filipas gelingt es in seiner wissenschaftlichen Untersuchung dieser Frage, eine nachweisliche Übereinstimmung zwischen den hebräischen Buchstaben und dem Tarot von Marseille zu belegen. „Diese Entsprechung liegt im mittelalterlichen hebräischen Lexikon, das eine alphabetische Abfolge von Wörtern enthält, die den 22 allegorischen Themen entsprechen. Jeder Trumpf veranschaulicht einen hebräischen Buchstaben, so wie eine deutsche Fibel eines Kindes „A für Apfel“ und „B für Ball“ wiedergibt. Die allegorischen Themen sind nicht nur in alphabetischer Reihenfolge zu finden, sondern praktisch jedes Element auf jeder Trumpfkarte ist mit demselben Anfangsbuchstaben versehen, [… so], dass der Tarot von Marseille ein „visuelles Abecedarium“ des hebräischen Alphabets ist.“
Was bedeutet das? Es gilt festzuhalten: Filipas ist tatsächlich der Beweis gelungen, dass es eine grundlegende Beziehung zwischen Hebräisch und dem Tarot gibt. Aber weil dieser Zusammenhang völlig nüchtern und sachlich ist, stehen die Verfechter eines kabbalistischen [a] (also eines jüdisch-mystischen) Hintergrunds und Ursprungs der Karten dabei trotzdem mit leeren Händen da. Heißt das nun, dass das Tarot keinesfalls mit kabbalistischen Absichten entworfen wurde und es nur eine kleine didaktische Hilfe zum Erlernen der hebräischen Sprache darstellt? Hat das Tarot nun einen okkulten Hintergrund oder ist es einfach nur ein triviales Spiel mit Lernbildern? Wie immer im Leben schließen sich auch hier gegensätzliche Positionen nicht aus, sondern sind lediglich Aspekte einer Wahrheit. Beides ist wahr. Ja, es war ein Abecedarium, eine Fibel zum Erlernen des hebräischen Alphabets, aber eben auch mehr als das.
Nach heutigem Stand der Forschung stammen die ersten Hinweise auf die Existenz eines Tarot aus der Anfangsphase der Renaissance im 14. Jahrhundert in Norditalien. All die verlorenen geglaubten antiken Schriften fanden über die Vermittlung von Byzanz und den Arabern ihren Weg nach Europa. Und nicht nur die Beherrschung von Griechisch und Arabisch war jetzt von zunehmenden Interesse für die Gelehrten Europas, auch die Kenntnis der Sprache in der das Alte Testament geschrieben war, war in den Fokus gerückt. Man muss bedenken, dass die katholische Kirche sich tausend Jahre lang herzlich wenig für das Alte Testament oder gar die jüdischen Kultur überhaupt interessiert hatte. Dieser Teil der Bibel wartete darauf, in die moderne Sprache übersetzt zu werden, und nicht nur das: es war allgemein eine Zeit des Aufbruchs, überall kam es zu einem Aufblühen der alten Überlieferungen. Arabische, jüdische und christliche Gelehrte standen wie selten zuvor in regem Kontakt und ihre jeweiligen Lehren beeinflussten und befruchteten sich gegenseitig.
Auch das Interesse an Magie war ungeheuer groß in dieser Zeit. Waren es doch gerade die enigmatischen Werke aus der Antike die jetzt zugänglich wurden. Man sah in den heidnischen Mysterien und Philosophien (vor allem verbunden mit der Figur des legendären Hermes Trismegistos) eine Vorahnung auf die Ankunft Christi auf Erden. Man war zudem der Ansicht, dass das Hebräische die Ursprache der Menschheit war, diejenige von Adam und Eva im Paradies, diejenige vor der babylonischen Sprachverwirrung. All das widersprach sich in dieser Zeit nicht, all das wurde als Teil einer “immergrünen” Weisheit gesehen (auch wenn die Beschäftigung mit diesen Dingen stets eine gefährliche Gratwanderung war und für viele lebensgefährlich). Man hielt Ausschau nach Weisheit in den Werken der arabischen Mystiker, den Sufis, [b] und eben auch in denen der jüdischen Kabbalisten. Gerade die Kabbala übte eine große Faszination auf die abendländischen Gelehrten aus, und so versuchte man sich gerade diese jüdische Geheimlehre anzueignen und sie zu christianisieren.
Ich glaube all diese Beobachtungen geben einen brauchbaren Hintergrund dafür, dass eine Lernhilfe des hebräischen Alphabets unter den gelehrten Köpfen in dieser Zeit sicherlich willkommen war.
Nun ist es aber mit dem hebräischen Alphabet nicht so einfach. Man sollte sich in Acht nehmen, sich dieses Alphabet so vorzustellen, wie wir unser heutiges Alphabet sehen. Für uns ist es eine simple und praktische Einrichtung die das Schreiben ermöglicht. Die Alphabete in der Anfangszeit kurz nach ihrer Erfindung waren für die Menschen damals aber magische Zeichen, die „Zeitreisen“ ermöglichten. Die Stimme Homers, die Verdikte der Könige, all das was Sprache war, konnte nun auch nach dem Tod und Verstummen des Urhebers vernommen werden. Es wurde nie leise gesprochen damals, wie Friedrich Nietzsche bemerkt, Text wurde stets laut deklamiert im Bewusstsein der Gegenwart eines Mysteriums.
Doch da ist noch mehr. Da ist diese ungeheuer verwegene Idee, dass die Buchstaben tatsächlich viel mehr Macht hatten. Man glaubte das Wesen der Buchstaben überrage all das was wir Welt und Schöpfung nennen. Die Mystik postulierte, dass die Buchstaben von Gott vor der Welt erschaffen wurden. Ja sogar, dass dieses Universum wie wir es kennen, von Gott durch und mit Hilfe der Buchstaben erschaffen wurde. Diese Überzeugung ist der Kern zumindest der jüdischen Mystik, der Kabbala.
Es gibt also spirituell gesehen Anlass zu der Feststellung dass Buchstaben an sich in keiner Weise etwas Triviales sind. Und wenn sie zu einer Sprache gehören, die heilige Texte hervorgebracht hat, dann sind auch die Buchstaben dieser Sprachen heilig. Sie sind lebendig, weil mit ihnen etwas Lebendiges hervorgebracht wurde, egal welche Glaubenssysteme oder Schöpfungsmythen man betrachtet. Die Religionen und die spirituellen Strömungen sind real, sie sind Teil der Menschheitsgeschichte. Auch wenn die Tarot-Bilder als Lernhilfen gedient haben mögen, kann man keineswegs sagen, dass das Thema damit bereits erschöpft ist. Ja, das Tarot de Marseille war nicht nur eindeutig mit dem hebräischen Alphabet verbunden in seiner trivialen Anwendung als Abecedarium, es ist offensichtlich, dass es von Anfang an zugleich ein Zyklus mystisch-archetypischer Ikonen war.
Eine große Frage aber drängt sich nun auf: warum sind sich die Tarotisten von heute darüber so uneinig, wie man die hebräischen Buchstaben mit den Großen Arcana in Beziehung bringt, wo doch der Beweis von Filipas augenscheinlich eine eindeutige Zuordnung präsentiert?
Wir haben gesehen, dass das Tarot ein Abecedarium des Hebräischen ist. Der Name und alle Elemente einer Karte verweisen der Reihe nach auf einen Buchstaben im hebräischen Alphabet. Damit ist aber Mark Filipas’ Lexikon-Theorie noch nicht vollständig beschrieben. Filipas zeigt in seiner Studie zudem, dass sich die Form dieser Buchstaben in der Gestaltung und Komposition der Karten widerspiegelt. Und auch hier, wenn man die Bilder einmal genauer betrachtet, kann man nicht umhin, voller Verwunderung zu registrieren, wie dieses Wechselspiel von Form und Buchstabe angelegt ist. So spiegelt sich in der Figur des Magiers die Gestalt des Buchstaben Aleph deutlich wieder. In der Körperhaltung des Gehängten zum Beispiel sieht man den Anklang auf den Buchstaben Lamed. Mal deutlicher mal weniger offensichtlich: das Schema zieht sich durch alle Karten. (Abb. 3)
All diese Beispiele bestätigen nur noch eindrücklicher die Gültigkeit der Lexikon-Theorie. Denn sie belegen, dass das hebräische Alphabet auf doppelte Weise im Tarot de Marseille codiert ist. Die Kartenmotive sind perfekt angelegt, um in ihnen das hebräische Alphabet wiederzufinden, hat man erst einmal den Schlüssel, den Zugang dazu gefunden. Denn auf den ersten Blick ist all das nicht zu erkennen, es wird augenfällig erst dann, wenn man die hebräischen Buchstaben bereits kennt oder gerade lernt. Dem gewöhnlichen Kartenspieler (denn das Tarot war einfach auch ein Kartenspiel, und zwar eines der beliebtesten von der Zeit der Renaissance bis hin zur Schwelle zum 20. Jahrhundert) entging all das. Für ihn waren es wunderliche Bilder auf die man sich schwer einen Reim machen konnte.
Aber etwas muss hier relativiert werden. Es ist die begründete Vermutung, dass die Verbindung mit dem hebräischen Alphabet eine Erfindung war, die nicht zusammenfiel mit der Erfindung des Tarots als solchem. In der modernen Forschung spricht vieles dafür, dass das Tarot durch Vermittlung der arabischen Kultur nach Europa gelangt ist. Idries Shah sagt in seinem Buch „Die Sufis“, dass das originale Tarot die Lehren eines Sufi-Meisters über die kosmischen Einflüsse auf die Menschheit abbildete. Es war in vier Teile geteilt, den turuq (vier Wege), wovon sich das Wort Tarot ableite. Das Tarot, so wie wir es kennen, sei erst danach durch den Wechsel aus dem morgenländischen Umfeld in die abendländische Welt und eben durch einen christlich-kaballistischen [c] Einfluss entstanden. Es gab falsche Übersetzungen und auch den Verlust von ursprünglichen Bedeutungen, was dazu führte, dass, aus der Sicht der Sufis, das Tarot de Marseille und damit auch alle heutigen Versionen nur noch teilweise korrekt sind („Die Mäßigung ist unkorrekt dargestellt und interpretiert; ebenso der fünfzehnte Trumpf; der sechzehnte Trumpf ist ein klassischer Fall eines missverstandenen Wortes; der zwanzigste ist falsch betont.“) [2] Bei Dai Léon („Origins of the Tarot“) findet sich ein Absatz, in welchem er darlegt, dass die Namen und Attribute der Tarot-Trümpfe ihren Ursprung in der Kosmologie des großen arabischen Gelehrten Ibn ‘Arabi haben. Der von ihm beschriebene „Kreis des Seins“ erstreckt sich über 28 archetypischen Stationen, von denen 22 den bekannten Tarotkarten entsprechen. [3] Léon spricht hier nicht explizit von den 28 Buchstaben des arabischen Alphabets, aber man kann diese Verbindung erahnen.
All das spricht dafür, dass das Tarot im Ursprung keine Verbindung zum hebräischen Alphabet hatte, ja sogar, dass das Tarot an einem bestimmten Punkt seiner Geschichte bewusst so überarbeitet wurde damit es zum Abecedarium der hebräischen Sprache wurde. [d] Es fand ein Übergang, eine Übertragung von einem Kulturkreis in einen anderen statt. Wenn man originell sein will, kann man dieses Spiel weiterspielen. David Allen Hulse zum Beispiel hat ein Tarotdeck an das moderne englische Alphabet angepasst und verwendet 26 Trümpfe. [4] Ich selbst habe mit dem Alpha Beta Tarot eine Übertragung zum altgriechische Alphabet hergestellt und bin bei 24 Trümpfen angelangt. [5] Das Tarot macht das alles mit, wenn man es nicht auf eine starre Art und Weise betrachtet.
Fassen wir zusammen: das Tarot de Marseille war und ist ein Abecedarium der hebräischen Sprache, aber nicht jedes Tarot ist ein solches und höchstwahrscheinlich auch nicht das ursprüngliche Tarot. Das Tarot an sich aber scheint immer ein Abecedarium zu sein in Bezug auf ein bestimmtes Alphabet, ein Buchstaben-Spiel. Doch wie ich versucht habe darzulegen, sind Buchstaben aus spiritueller Sicht auch etwas Mystisches. Im apokryphen Evangelium von Philip heißt es: „Die Wahrheit kam nicht nackt in diese Welt. Sie kam in Buchstaben und Bildern. Man kann zur Wahrheit auf keine andere Art und Weise gelangen.“ [6] Die Buchstaben der heiligen Schriften sind notwendigerweise selbst heilig. Juan Acevedo zitiert die Mysteria Litterarum: [die Buchstaben] „sind von Gott geprägt/geformt, und es gibt keinen Menschen oder Weisen, der sie geprägt hat.“ [7] Buchstaben sind etwas Übernatürliches. Deshalb ist ein Abecedarium immer auch ein metaphysisches Ereignis.
Nun aber sind diese Spielarten des Tarot, die ich genannt habe, vielleicht nicht mehr als eine Randbemerkung. Niemand fragt heute nach einem Ur-Tarot der Sufis, niemand mag ernsthaft mit 24 oder 26 Trümpfen arbeiten. Unser modernes Tarot, das nun einmal vom Tarot de Marseille abstammt, ist heute zu so großer Pracht und Blüte gewachsen, dass niemand es gegen etwas Anderes eintauschen möchte. Der mystische Bezug zum Hebräischen ist durch eine über 150 Jahre andauernde Leistung der größten und besten Köpfe immer tiefer und subtiler ausgestaltet worden. Wir besitzen darin ein unschätzbar wertvolles spirituelles Erbe. Unzählige Tarotisten verwenden weltweit im Grunde ein und das gleiche Tarot zur Divination und Meditation, mag es in noch so viel unterschiedlichen künstlerischem Gewande erscheinen. Es wäre im Prinzip alles in bester Ordnung, wäre da nicht diese fundamentale Auseinandersetzung um die der korrekten Ordnung der Karten.
Zurück zu unserer großen Frage: wenn doch die Lexikon-Theorie nicht zu widerlegen ist angesichts der Fülle der Beweise, und sie die Zuordnung der hebräischen Buchstaben zum Tarot genau definiert, warum besteht dann heute eine so große Uneinigkeit über die Art der Verbindung von Alphabet und den Großen Arcana des Tarot? Warum gibt eine so große Auseinandersetzung um die Frage, welche Zuordnung nun die Richtige ist? Warum stehen sich diese rivalisierenden Lager teilweise so unversöhnlich gegenüber? Warum finden sie nicht eine Übereinkunft?
Abgesehen von denen, die die Lexikon-Ordnung akzeptieren (denn diese Gruppe gibt es ja auch), ist da die Französische Schule, die im Grunde ebenfalls diese Ordnung verwendet, allerdings mit einer großen Ausnahme: der Narr entspricht in dieser Tradition nicht dem letzten Buchstaben Tav, sondern dem vorletzten Buchstaben Shin. Die Welt rückt entsprechend vom vorletztem Platz in der Reihenfolge auf den letzten Platz und übernimmt das Tav vom Narren. Die Britische Schule setzt dagegen den Narren an die erste Stelle und beginnt mit ihm das Alphabet, setzt also den Narren mit dem ersten Buchstaben Aleph in Verbindung, mit dem Resultat, dass sich alle folgenden Großen Arkana um einen Buchstaben verschieben. Der Magier gehört hier also nicht mehr zu Aleph, er wird Beth zugesprochen. Die Hohepriesterin ist nicht mehr mit Beth verbunden sondern mit dem dritten Buchstaben, dem Gimel, und so weiter. Im Ergebnis gibt es keine Übereinstimmung mehr mit der Lexikon-Ordnung. Beide Traditionen haben in diesem Hinblick nur eine Gemeinsamkeit: beide verbinden das Arkanum #21, die Welt, mit dem letzten Buchstaben des Alphabets, Tav.
Es ist hier nicht der Platz um auf die Geschichte und Ursprünge der jeweiligen Schulen genauer einzugehen. Nur kurz: Die französische Schule beginnt gegen Ende des 18. Jahrhunderts und findet ihre führenden Denker in Eliphas Levi (1810 – 1875) und Papus (1865 – 1916). Die britische Schule entwickelt sich etwa 100 Jahre später aus der Geheimgesellschaft Order of the Golden Dawn. Die führenden Köpfe waren MacGregor Mathers (1854 – 1918) und A.E. Waite (1857 – 1942).
Wenn man die Systeme der beiden konkurrierenden Lager genauer betrachtet, kommt man zu dem Ergebnis: beide änderten bewusst die traditionelle Zuordnung, weil man der Meinung war, dass diese falsch oder nicht vollständig ist. Obwohl die Position des Narren nicht die einzige Modifikation in diesem Prozess war, so ist diese doch der zentrale Aspekt in beiden Paradigmen. Es geht hier exakt darum, wo der Narr in der Reihe der Trümpfe beheimatet ist. Beide Traditionen geben sich nicht damit zufrieden, dass er den letzten Platz in der Folge der Trümpfe einnimmt, so wie die Erfinder des Tarot de Marseille es augenscheinlich vorgesehen hatten. Beide Schulen gehen davon aus, dass es schon immer eine verborgene Ordnung und Bedeutung der hebräischen Buchstaben bezogen auf das Tarot gegeben hat, bereits angelegt von den Autoren, die die Karten gemäß der Lexikon-Ordnung vorgestellt hatten. Das zentrale Buch auf dem diese Spekulationen zurückgehen ist das „Buch der Schöpfung“ [e] aus der Zeit vom 3. bis zum 6. Jahrhundert nach Christus. In ihm ist die mystische Bedeutung aller Buchstaben des hebräischen Alphabets angelegt. Dort werden diese in drei Gruppen eingeteilt und mit verschiedenen Attributen belegt. Die zentralen und wichtigsten Buchstaben sind hier Aleph, Mem und Shin (sie werden als „Mütter“ bezeichnet). Man erkennt sofort dass jede Schule den Narren zu einem Mutter-Buchstaben zuordnet: die französische Tradition zum Shin, die britische Tradition zum Aleph. Alle sind sich darüber einig, dass der Narr die herausragende Karte im Tarot darstellt und dies sich in der Zuordnung innerhalb des Alphabets widerspiegeln muss.
Was macht den Narren so wichtig? Zunächst ist er bereits im Tarot de Marseille der einzige Trumpf ohne Zahl. Dann ist da das Bild der Trumpfkarte, das was dargestellt ist. Der Narr ist eben nicht einfach nur ein Narr, ein „Verrückter“. Ist er nicht „ein wandernder Mensch, ein Pilger zum Nirgendwo, ein von überall Verbannter, der nichts sein will, der weder Namen, noch Ruhm, noch Autorität, noch Macht, noch Reichtum, noch ein Zuhause, noch Verwandte oder Freunde verlangt? Und die Verachtung dieser Dinge, ist sie nicht eine Torheit vor der Welt? […] wie würde ein Mensch erscheinen, der die Eitelkeit der persönlichen Ansprüche auf Ehrungen, Auserwählung und Macht durchschaut? Ein Weiser? Ein Tor? […] und welche Persona – psychologische Gewand – würde man einem solchen Menschen zuordnen? Die des Narren. Das ist „ecce homo“. Denn auch ihm gab man ein Purpurgewand und einen Stock in die Hand und krönte ihn mit der Dornenkrone – denn sein Reich war nicht von dieser Welt.“ (Abb. 4) [8]
Es gab und gibt eine mystische Identifikation des Narren mit Jesus Christus. Das ist die Aussage der christlichen Kabbala [8] und das Tarot de Marseille stammt ganz offensichtlich aus diesem Umfeld. Der mystische Name von Jesus wird hier als der vierbuchstabige Name Gottes im Alten Testament Yod-Heh-Vav-He geschrieben, in das in der Mitte ein Shin eingefügt ist: Yod-Heh-Shin-Vav-Heh. Das Shin als Buchstabe ist in dieser Hinsicht die „Krone“ des Alphabets, und ähnelt der Buchstabe nicht auch einer Krone? (Abb. 5a) Das Shin steht für Christus, und deshalb setzt die Französische Tradition den Narren an die vorletzte Stelle, so wie das Shin der vorletzte Buchstabe im hebräischen Alphabet ist.
Shin ist unter den drei Mutter-Buchstaben der erste und damit der nobelste Buchstabe im hebräischen Alphabet. „Shin repräsentiert das Feuerelement, den schöpferischen Geist, der in die Materie schießt.“ Er ist die Prima Mater, das Symbol der Prima Materia der Alchemie, er ist das Symbol der uranfänglichen Einheit der Schöpfung. [9] Von den drei Kategorien Körper, Seele und Geist entspricht ihm der Geist.
Man kann leicht erkennen, dass sich hier Tiefen der mystischen Spekulation auftun, die ich an dieser Stelle nicht weiter ergründen kann. Festzuhalten ist, dass es gerade die Einsichten waren, die man aus dem Studium der Kabbala gezogen hat, dazu führten, die ursprüngliche Ordnung der Trümpfe zu korrigieren. Und das gleiche gilt ebenso für die Britische Schule. Der Narr steht hier mit dem ersten Buchstaben Aleph in Verbindung. Dieser steht auch für den Lebensatem, das „Luft-Element in das sich die Sprache, das lebendige Wort, in Formen einschreibt. Ihm entspricht die Seele…“ [10]
Verweist Shin in der christlichen Kabbala mystisch auf Jesus Christus, so verweist Aleph auf Gott selbst, beziehungsweise die Einheit von Gottvater und Sohn. Denn auch hier ist eine Verbindung zum vierbuchstabigen Namen Gottes gegeben. Yod-Heh-Vav-Heh entspricht in der jüdischen Zahlenmystik, der Gematria, [f] der Zahl 26. Der Buchstabe Aleph kann in seiner Form so gesehen werden wie die miteinander verbundenen Buchstaben Yod-Vav-Yod. Diese wiederum ergeben summiert 10+6+10 = 26. (Abb. 5b) Aleph hat zudem den Wert 1, und auch das Wort für Einheit beginnt mit Aleph: Achad.
Nach diesem Blick in die Mysterien des hebräischen Alphabets kehren wir zurück zu unserem Disput zwischen der Französischen und der Britischen Schule des Tarot. Wir können klar erkennen dass beide Traditionen versuchen, dem Narren den Ehrenplatz einzuräumen den er verdient. Es ist nur eine andere Art zu sagen dass Christus der feurige heilige Geist ist oder der heilige Atem der der Schöpfung Leben einhaucht. Gerade weil die Mystik voll von verborgenem Wissen und heiliger Geheimnisse ist, ist die Hypothese nachvollziehbar, dass bereits die Erfinder des kabbalistischen Tarot eine wahre Ordnung der Karten im Sinn hatten, die sie hinter der Lexikon-Ordnung verbargen, da das tatsächliche Wissen ein so machtvolles spirituelles Kapital ist, etwas das man nicht einfach „im Schaufenster ausstellen kann“.
Dass beide Schulen in Konflikt stehen, kann eigentlich nur bedeuten, dass diese Übereinstimmungen im Wesen der beiden Ansätze vielen Anhängern der beiden Schulen entweder nicht bekannt sind oder in Vergessenheit geraten sind. Tatsächlich widersprechen sie sich ja auch oberflächlich gesehen und wer mag es schon gerne, dass das was man sicher als wahr und richtig empfindet von einem anderen nicht geschätzt oder verleugnet wird. Aber Gegensätze sind immer zwei Ansichten der gleichen Wahrheit, das ist ein Grundaxiom der Hermetik. Allein diese Betrachtung sollte schon dazu beitragen, die beiden Lager zu versöhnen. Dennoch möchte ich hier eine Schlussbetrachtung hinzufügen.
Die ganze Problematik beruht auch auf einer grundsätzlichen Schwäche des Intellekts: dieser hat immer das Starre, unbewegte zum Gegenstand. „Unser Intellekt stellt sich deutlich nur die Bewegungslosigkeit vor,“ wie der französische Philosoph Henri Bergson sagte. [11] Der Verstand analysiert, zerteilt und geht immer von einer unbewegten, „eingefrorenen“ Momentaufnahme aus. Der Intellekt sieht nicht, dass jeder Augenblick einer Geschichte Neues birgt. „Er anerkennt kein Unvorhersehbares. Er verwirft jede Schöpfung.“ Er ist verständnislos gegenüber Leben und Bewegung. Diese werden nur von der Intuition richtig begriffen. Worauf will ich mit diesem Gedanken hinaus? Die Denker der beiden großen Schulen des Tarot, der französischen und der britischen Tradition, beide können sich nur vorstellen, dass ein Großes Arcanum einem Buchstaben entsprechen muss. Aber liegt nicht hier schon der Denkfehler? Das Tarot ist keine tote und starre Struktur. Wir haben gesehen dass es ein heiliges, mystisches Wesen hat, weshalb es auch etwas Lebendiges sein muss. Könnte das Tarot die Menschen seit so langer Zeit inspirieren, wenn es ein totes Konstrukt wäre? Nein, das Tarot ist lebendig. Und etwas das lebendig ist, ist in Bewegung.
Was wäre, wenn nicht die eine oder die andere Schule im Recht wäre, sondern beide? Was wäre, wenn jede Karte in sich den Keim zur nächsten Karte in sich trüge und jede Karte mit zwei Buchstaben verknüpft wäre? Wenn der Magier sowohl Aleph als auch Beth entspräche, und die Bewegung von Aleph zu Beth darstellt, so dass er gar keinen fixen Punkt repräsentiert, sondern eine Linie, einen Vektor? Beide Seiten berufen sich auf die jüdische Mystik, die Kabbala. Ein Teilaspekt davon ist die Gematria, die Lehre davon, wie Worte und Zahlen miteinander verbunden sind. Ein wichtiges Axiom der Gematria ist: jede Zahl trägt in sich den Keim der nächsten Zahl. Werden zwei Zahlen verglichen, fällt eine Differenz von nur 1 unter den Tisch. Man nennt diese Regel das „Colel“. Könnte man das nicht als sinnstiftende Analogie in diesem Streit um die richtige Reihenfolge und Anordnung sehen? Ein Unterschied von 1 als etwas zu sehen, das nicht relevant ist?
Man darf das Tarot nicht ausschließlich mit dem Intellekt betrachten. Das Lebendige wird von der Intuition besser erfasst. Dennoch: egal welche Fehler in der Gestaltung oder in der symbolischen Dartellung einem Autor oder Künstler eines neuen Tarotdecks unterlaufen mögen: das Universum, die Lebenskraft, das All, wie immer wir die höchste Macht nennen wollen, immer sorgt sie auch dafür dass im Missverständnis Sinn entsteht und dass die Hand und der Stift des Tarot-Autors inspiriert und geleitet wird. Es gibt viele Wege, auch die falschen, das Leben zeigt immer wieder wie aus Irrtum Wahrheit erwächst.
Ein letzter Blick auf den sich stets wandelnden Organismus des Tarot: Es ist, so hoffe ich, ein versöhnlicher Schlussakkord: was ursprünglich als Argument für die französische Schule galt, die versteckten Buchstaben, lassen sich im Pontifex Tarot auch im Sinne der Britischen Schule ausfindig machen. (Abb: 6)
[1] Mark Filipas gibt einen Überblick seiner Studie unter bunkahle.com/Tarot/allusion.html
[2] Idries Shah, The Sufis, Seite 480
[3] Dai Léon, Origins of the Tarot, Frog Books, Seite 126
[4] David Allen Hulse, Sepher Aiwass, Hellfireclubbooks
[5] Nil Orange, Alpha Beta Tarot, orange-folio
[6] Gospel of Philip 67, 9-11 (zitiert nach David Fideler, Jesus Christ, Sun of God, Quest Books, Seite xiii)
[7] Juan Acevedo, Alphanumeric Cosmology from Greek into Arabic, Mohr Siebeck (er zitiert hier aus Mysteria Litterarum) Seite 127
[8] Valentin Tomberg, Inspirationen zu den Großen Arcana des Taro XIV-XXII Ecce homo (seht den Mensch) nach Evangelium von Johannes, 19, 5
[9] anthrowiki.at/Sin_(Hebräisch)
[10] anthrowiki.at/Aleph_(Hebräisch)
[11] Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena 1921, Seite 158f
[a] Qabalah ist eine esoterische Lehre und Denkschule der jüdischen Mystik
[b) Sufismus ist eine religiöse Praxis, eine mystische Schule innerhalb des sunnitischen Islams mit Schwerpunkt auf islamischem Ritus, Askese und Esoterik
[c) Die christliche Qabalah entstand in der Renaissance. Sie interpretierte die jüdische Qabalah gemäß der christlichen Theologie. Der erste wichtige Vertreter war Pico della Mirandola (1463-1494), der erste christliche Gelehrte, der sich intensiv mit der Qabalah beschäftigte
[d] Allerdings kann man argumentieren, dass vielleicht auch die Sufis selbst ein bereits existierendes Proto-Tarot, das älter als die arabische Version ist, überarbeitet haben, denn über das tatsächliche Alter und den wahren Ursprung des Tarots besteht noch keine Gewissheit
[e] Das Sefer Yetzirah (Buch der Schöpfung) ist das älteste erhaltene Buch der jüdischen Mystik. Traditionell wird es dem Patriarchen Abraham zugeschrieben, doch die Gelehrten weisen auf Rabbi Akiva (50/55-135 n. Chr.) als Autor hin.
[f] Gematria ist die alphanumerische Praxis, einem Wort oder Satz eine Zahl nach einer Chiffre zuzuordnen. Ähnliche Systeme wurden auch von den Griechen und den Arabern verwendet. Sie ist als Numerologie im englischen Alphabet noch immer lebendig.
Abbildung 2: Paul Marteau, Tarot de Marseille, 1949 (Edition J.C. Dusserre).